Latente Bewegung

Absicht oder Zufall? Die Herausforderung eines jeden kreativen Prozesses besteht darin, sich zwischen diesen Gegensätzen zu positionieren. Ulla und Martin Kaufmann plädieren für einen bewundernswerten Kompromiss zwischen Intuition und Methode, Spontanität und Strategie. Zudem setzen sie auf die Einfachheit und formelle Schlichtheit, die jede Entscheidung zur Essenz werden lässt. Es bleibt kein Raum für falsche Entscheidungen. Die Einschränkungen intensivieren das Erleben des Prozesses, schärfen die Sinne, die Konzentration ... So wird Präzision emotional und Perfektion verwandelt sich in eine Alltagsutopie menschlicher Dimension.

Ulla und Martin Kaufmann verfügen über virtuose Kenntnisse in ihrem Metier. Sie wissen, dass die Entscheidungsfindung ein intellektueller  Werkzeuge nachhaltig prägt. Die daraus resultierenden Kunstwerke evozieren Beziehungen von Gewicht und Gegengewicht, Spannung und Entspannung. Zwischen Skulptur und funktionalem Objekt werden die Möglichkeiten des Metalls von den beiden Silberschmieden auf die Probe gestellt und die Eloquenz der Formen herausgefordert.

Bei dem Halsschmuck „Fast Nichts” wurde das Metall mit der exakt erforderlichen Spannung zu einer langen Spirale geschmiedet, die nicht aus der Form gerät und sich geschmeidig um den Hals windet. Die Absicht, mit der Spirale einen Raum einzubinden, entspricht dem Willen, eine nicht greifbare Leere zu umschließen und dadurch einen Raum für den Körper zu schaffen – vergleichbar mit den bewohnbaren Skulpturen von Richard Serra, bei denen die Leere ebenfalls einen Raum für den Menschen schafft. Ähnlich wie bei seinen „Torqued Ellipses” schlingen sich auch bei den ovalen Silberbehältern der Kaufmanns die Gefäßwände so eng um sich selbst, dass ein Zwischenraum von nur wenigen Millimetern verhindert, dass sie miteinander in Kontakt treten.
Auf diese Weise führt uns die meisterhafte Arbeit dieser Silberschmiede dazu, von innen heraus, ausgehend von der Leere, zur Oberfläche zu gelangen.

Basierend auf der Kreation des Halsschmucks „Fast Nichts” werden in der Arbeit der Kaufmanns, sowohl im Schmuck als auch im Gerät, vor allem die Spannung des Metalls und die Grenzen seiner Elastizität ergründet und somit die Form und Funktion der Objekte provoziert. Die freigesetzte Spannung, die eine latente Bewegung auslöst, charakterisiert auch im Folgenden die neue Schaffensphase der Behälter in Form von „Containern”.

Ihre Vorläufer finden wir bei den „Architekturringen” mit ihren großen Steinen, die auf unserer Hand umzukippen scheinen. Der Bewegungsimpuls wurde hier nur durch die seitlich verschobene Lage der Steine geschickt angedeutet. Es handelte sich noch nicht um die wirkliche Bewegung, die die ausschlaggebende Kompositionskraft der Container ausmacht. Das für die Container gewählte Metall ist Messing, normalerweise als geringwertig betrachtet, welches aber hier eine zurückhaltende Großartigkeit entfaltet.
Die Container sind aufklappbar und so in der Lage, ihr Erscheinungsbild zu verändern. Nur ein Container mit dem Titel „Silo” hat kein bewegliches Element. Doch schon bei ihm als dem ersten Objekt dieser Reihe wird deutlich, dass die Entwicklung der architektonischen Formen ermöglicht, die ästhetische Erfahrung mit dem Raum zu beschreiben und zu erfassen.

 

Das Material ist Messing

Die Spannung, die bei den umschlungenen Metallbändern des Halsschmucks „Fast Nichts” zu spüren war, verwandelt sich nun in eine großzügige Geste ohne jeglichen Widerstand, wenn man die Deckel dieser Container aufschiebt. „Aufschieben” eher als hochheben oder abnehmen, da es keinen Knauf oder Griff gibt. So lässt uns das Öffnen dieser Objekte zum Protagonisten einer unerwarteten Choreographie mit dem Gegenstand werden. Die Sanftheit und Genauigkeit, mit der diese Deckel bewegt werden können, wird durch die Scharniere bewirkt, die mit höchster Präzision an dem exakt erforderlichen Platz angebracht sind, um eine geometrische Kombination von Gefühlen, Gewichten und Balancen zu ermöglichen. Das technische Element wird nicht verborgen, sondern ist Teil der Ästhetik des Gegenstandes. Der Augenblick der Veränderung, der Metamorphose konzentriert unsere gesamte Aufmerksamkeit.
Die Container falten sich auf. Der Mechanismus, die Harmonie der Bewegung überrascht uns. Wir staunen über einen Deckel, dessen Öffnen nicht vollständig vollzogen wird, sondern der wenige Millimeter über dem Boden ins Schweben gerät.

Als handele es sich um die magischen Kästchen eines Zauberspiels, erahnen wir ein komplizenhaftes Lächeln von Ulla und Martin. Bei ihrer hervorragenden technischen Ausführung haben sie weder den Humor außer Acht gelassen noch optische Herausforderungen vergessen, die zur Interaktion einladen. Manchmal scheinen die Oberflächen einen perfekten rechten Winkel zu bilden, doch schließt man den Container, scheinen die Flächen plötzlich eine viel stärkere Neigung zu haben. Hierdurch wird die Wichtigkeit verständlich, die die Künstler der Wahrnehmung zuordnen.

In der geöffneten Position schließen die Container den Raum, der sie umgibt, in sich ein, die Luft verwandelt sich in eine spürbare Materie. Das lässt uns an die Kunst von Donald Judd denken, der seine Werke nicht als Skulpturen, sondern als „spezifische Gegenstände” betrachtete: In welcher Weise füllen und verändern Gegenstände den Raum? Für ihn stellte der Raum etwas Erspürbares dar, das man beobachten und sinnlich erfahren kann. Paradoxerweise hat dem Minimalkünstler „par excellence” der Begriff Minimalismus nie behagt, da dies für ihn eine Einschränkung der Möglichkeiten noch vor dem eigentlichen Schaffensbeginn bedeutete.

Trotz seines Purismus und seiner Einfachheit lässt sich sagen, dass dem Werk von Ulla und Martin Kaufmann die simple Bezeichnung „minimalistisch” auch nicht gerecht wird. Ihre Schmuckstücke und Objekte existieren, um wieder und wieder erfunden zu werden, um sie zu betrachten, mit sich zu tragen und mit ihnen in Interaktion zu treten. Ihre schlichte Schönheit und formale Ruhe ist anziehend, aber sie werden noch verführerischer, wenn sie nicht so reagieren, wie wir es erwartet haben:

… Wenn ein Metallstreifen die perfekte Spannung aufweist, damit er sich elegant um den Hals winden kann.

… Wenn ein schmaler Zwischenraum uns ermöglicht, die Oberfläche eines Gefäßes von innen nach außen zu umwandern.

… Wenn die Geste einen Container und der Container eine Geste verändert.

Latente Bewegung der Gegenstände und Gefühle.